Eine kurze Reise durch die Geschichte

Vergesellschaftung – keine neue Idee

Mit unserer Kampagne fordern wir die Enteignung von großen Stromkonzernen und Vergesellschaftung der Stromproduktion. Mit dieser Forderung nach Vergesellschaftung reihen wir uns in eine lange Geschichte ein.

Vergesellschaftung in der Weimarer Republik

Bereits die Verfassung der Weimarer Republik beinhaltete einen Vergesellschaftungsparagraphen. Die basisdemokratisch erkämpfte Idee der Vergesellschaftung ging durch den politischen Druck der Märzstreiks von 1919 in die Weimarer Verfassung ein.

„Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen.“

Artikel 156 Weimarer Reichsverfassung

Vergesellschaftung ist nicht neu: Durch den politischen Druck der Märzstreiks 1919 wurde ein Artikel zur Vergesellschaftung in die Weimarer Verfassung aufgenommen.
Frühjahr 1919: Streikposten in Berlin. © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Artikel 15 im Grundgesetz

Als das Grundgesetz 1949 beschlossen wurde, fand schließlich Artikel 15 GG Einzug, der die Enteignung und Vergesellschaftung ganzer Wirtschaftszweige regelt. Denn aufgrund der Erfahrung des 2. Weltkrieges, dass Schlüsselindustrien stark missbraucht werden können, sowie der Unklarheit der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands fand der Artikel damals parteiübergrifend Zustimmung. Das Grundgesetz sieht ausdrücklich vor, dass bestimmte Bereiche unserer Wirtschaft dem Markt entzogen werden können. Das heißt also vergesellschaftet, gemeinwirtschaftlich organisiert und demokratisch verwaltet werden können.

„Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

Artikel 15 Grundgesetz

Folglich ist auch keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorgeschrieben. Die vorherrschende kapitalistische Marktwirtschaft entwickelte sich durch das sog. Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren, die fortschreitende Neoliberalisierung des Wirtschaftssystems und die Privatisierung vieler Sektoren in den 80er Jahren. Gleichzeitig wurde Artikel 15 GG durch den Kalten Krieg zunehmend als ein „sozialistischer Fremdkörper“ in der Verfassung wahrgenommen. Die Forderung nach Vergesellschaftung verlor zudem durch den Ausbau des Sozialstaats und die tarifpolitischen Erfolge der Gewerkschaften an Bedeutung. Bisher wurde daher von Artikel 15 GG kein Gebrauch gemacht.

Stahlwerke jetzt – Vergesellschaftung im Diskurs von 1987

Während der Stahlkrise 1987 wurde die Forderung nach Vergesellschaftung gestellt
Arbeitskämpfe in der Stahlindustrie 1987. Foto: Manfred Vollmer

Doch die kapitalistisch organisierte Welt bringt vielfältige soziale Probleme hervor, die immer wieder aufzeigen: Es bedarf grundlegender Veränderung! So wurde unter anderem während der Stahlkrise die Forderung nach Vergesellschaftung gestellt: Die um ihre Arbeitsplätze bangenden Beschäftigten organisierten sich und beriefen sich auf Art. 15 GG. Im Oktober 1983 stimmten die Delegierten des 14. Gewerkschaftstages der IG Metall (IGM) fast einstimmig für eine Vergesellschaftung der westdeutschen Stahlindustrie. Der Vorstoß scheiterte letztlich und der Stahlprotest endete 1987 mit einem politischen Kompromiss. Arbeiter*innen erwarben dadurch jedoch nicht die geforderte Beteiligung.

Die Grünen und die IG Metall diskutierten und forderten 1987 Vergesellschaftung als Lösung der Stahlkrise
Wärend die Grünen in den 80ern Vergesellschaftung als Lösung für die Stahlkrise noch diskutieren, fordert die IG Metall diese bereits. Foto: Buchcover (links), Foto aus »Die Halbe Macht« von Karl Lauschke (rechts).

Bankenrettung und Vergesellschaftung 2008/09

Während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 wurde das Thema Vergesellschaftung politisch von Neuem breit diskutiert. Um die Finanzmärkte zu beruhigen und die Krise einzudämmen, begannen Regierungen weltweit nach und nach Milliardenbeträge für die insolvenzbedrohten Banken bereitzustellen. Hier ging es konkret um die Rettung der Banken: Die Verluste des Bankengeschäfts wurden sozialisiert, also von der Gesellschaft getragen. Vergesellschaftung wurde somit als verfassungsrechtliches Mittel zur Rettung des Kapitalismus eingesetzt. Dabe wurde den Sinn und Zweck des Artikels 15 GG weit verfehlt. Die Krise auf den globalen Finanzmärkten hat vielfach die Diskussion über die Funktionstüchtigkeit des marktwirtschaftlichen Systems neu entfacht.

Vergesellschaftung als Lösung sozialer Krisen

Spätestens die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat vielen Menschen die vielfältigen Probleme vor Augen geführt, die von der kapitalistischen Profitlogik andauernd hervorgebracht werden und sich durch die derzeitigen Krisen weiter zuspitzen. Es wird immer deutlicher, dass es einer grundlegenden Veränderung bedarf. Dabei ist auch der politische Diskurs um Artikel 15 GG wieder erwacht. Er ist Ausdruck der Offenheit des Grundgesetzes für marktalternative gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsformen und ein Angebot an Bürger*innen, sich für eine Selbstgestaltung und Selbstorganisation zentraler Lebensbereiche einzusetzen.

Einige Beispiele sind hier zu nennen:

Die Stromkonzernkampagne „Power to the people – den Stromkonzernen den Stecker zeihen“ von Attac analysiert 2008 die Klimakrise sowie ihre Folgen. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass Enteignung und Vergesellschaftung der Energieriesen notwendig ist – prägte damit den Diskurs.

Deutsche Wohnen & Co. Enteignen: Die Initiative kämpft gegen die Wohnungskrise in Berlin und fordert die Enteignung großer Immobilienkonzerne.

Auch in weiteren Bereichen wie dem Gesundheits- und Verkehrssektor wird die Forderung nach Vergesellschaftung vermehrt formuliert, um den dortigen Notständen etwas entgegenzusetzen.

Deutsche Wohnen & Co enteignen fordert die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne
Beim Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co enteignen stimmten 59,1% der Berliner*innen für die Vergesellschaftung. Foto: Christophe Gateau/dpa

Diesen Kämpfen schließen wir uns an!

Die Aktuellen Zustände der Energieproduktion und ihre Sozial- und Klimafolgen werden wir nicht weiter hinnehmen. Wir sehen daher es als unser legitimes Recht, über Stromproduktion als Gesellschaft selbst zu bestimmen. Um aber ein gutes Leben für alle und den dafür notwendigen Systemwandel zu erzielen, müssen wir die Forderung nach Vergesellschaftung auch in anderen Bereichen stellen und unsere Kämpfe verbinden. Indem wir RWE & Co enteignen und den Energiesektor vergesellschaften, gehen wir also einen weiteren Schritt von vielen.

Quellen:
  • Dieter Braeg / Ralf Hoffrogge (Hg.): Allgemeiner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. 16.-20. Dezember 1918 Berlin – Stenografische Berichte, 2. durchgesehene Auflage: Dezember 2018.
  • Ridder, VVdStRL 10 (1966), 124, 147.
  • Depenheuer/Froese, in: Mangoldt/Klein/Starck, GO, 7. Aufl. (2018), Art. 15 Rdnr. 3.
  • Ralf Hoffrogge, 2021: Stahlwerke jetzt!, AK 674.
  • Abendroth, Wolfgang (1966): Das Grundgesetz. Einführung in seine politischen Probleme. Neske, Pfullingen (= Politik in unserer Zeit, 3).