Aufruf an die Bewegung Akordeon

Nach Lützerath ist vor der Vergesellschaftung!

Wir haben um Lützerath gekämpft. Auf allen Ebenen. Die letzten zweieinhalb Jahre haben unzählige Gruppen eines breiten Spektrums Lützerath als einen Ort des Widerstandes aufgebaut und an die jahrzehntealte Geschichte des Braunkohleprotests im Rheinland angeknüpft.
Lützerath war als Ort für viele von uns ein Bezugspunkt, ein Ort wo wir uns begegnet sind, Utopie aufgebaut und gelebt haben und uns der kapitalistischen Zerstörung in den Weg
gestellt haben. Es war genau der richtige strategische Ansatzpunkt, Lützerath als Ort
sichtbar zu machen, an dem die Klimakrise konkret verursacht wird und an dem eine Kursänderung eingefordert werden kann hin zu einem radikalen Klimaschutz, der seiner globalen Verantwortung gerecht wird. Umso wichtiger war dieser kompromisslose Widerstand in Zeiten, in denen fossile Infrastruktur wieder ausgebaut statt abgebaut wird.
Die 35.000 Menschen auf der Demonstration, die zahlreichen Allianzen, die sich rund um
das Dorf gebildet haben, sprechen eine klare Sprache: Wir waren als Klimagerechtigkeitsbewegung in Lützerath zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Den Kampf um den Erhalt von Lützerath mögen wir nicht gewonnen haben, aber uns bietet
sich jetzt die Möglichkeit die Früchte unserer Arbeit zu ernten – wenn wir jetzt aus den
Erkenntnissen, die in den Kämpfen um Lützerath liegen, lernen und gemeinsam den nächsten Schritt gehen.

Vielen war es schon nach dem Dannenröder Wald klar: auch eine grüne Regierung wird nicht dafür sorgen, dass fossile Konzerne gestoppt werden. Dies dürfen wir als Klimagerechtigkeitsbewegung nicht mehr vergessen. Spätestens jetzt muss uns klar sein: Wir müssen aufhören, zu hoffen, Regierende überzeugen zu können. Die „grüne“ Partei hat sich als Teil der Regierung, gewählt von Stimmen zu denen ihr erst durch die breiten gesellschaftlichen Erfolge der Klimagerechtigkeitsbewegung verholfen wurde, gegen Lützerath und für die Interessen von RWE entschieden, gegen Klimaschutz und für privatwirtschaftliche Gewinne.
Auch der von den Grünen mitgestaltete Deal um den von 2038 auf 2030 „vorgezogenen“ Kohleausstieg hat eine grün gestrichene Fassade: die Menge an Kohle, die insgesamt verbrannt wird, bleibt gleich. Der frühere Kohleausstieg bringt damit keine Verbesserung.
Diese Beispiele sind keine unglücklichen Fehltritte, sondern haben System. Regierungen haben ein Interesse an einer wachsenden Wirtschaft, um im Amt zu bleiben und dafür können sie es sich nicht leisten, sich mit Großkonzernen anzulegen.
Im Diskurs um den Klimawandel ist die Warnung von der uns durch die Finger gleitenden Zeit allgegenwärtig – warum lassen wir uns dann als Bewegung so viel Zeit damit zu erkennen, dass wir mit Appellen an Entscheidungsträger*innen nicht weiterkommen?
Wo ergeben sich für uns als Bewegung alternative Hebelpunkte?

Hinter unseren politischen Forderungen stehen wissenschaftliche Erkenntnisse, Gerichtsurteile und deutschlandweite Umfragewerte. Den Diskurs haben wir mit unseren Argumenten gewonnen. Doch das allein scheint nicht zu reichen: Dass Entscheidungen wie die Räumung Lützeraths trotzdem getroffen werden, macht es nötig, dass wir als Klimagerechtigkeitsbewegung über die Eigentumsfrage sprechen:
Wem gehört eigentlich was und wer hat demzufolge das Recht darüber zu entscheiden, was damit passiert?
Mobilität, Gesundheitsversorgung, Lebensmittelproduktion, Energieversorgung, unsere
gesamten Grundbedürfnisse sind in privatem Eigentum und unterliegen damit dem Zwang
der Profitgenerierung. Das, was wir alle zum Leben brauchen, gehört Wenigen, die die Macht haben zu entscheiden, was, wie und zu welchem Zwecke produziert wird. Der ÖPNV muss dringend ausgebaut und kostenlos werden, Energie erneuerbar und bezahlbar. All das ist uns als Gesellschaft längst klar, nur fehlt uns die Macht, um diese Veränderungen umzusetzen.

An diesem Punkt setzt Vergesellschaftung an: privatwirtschaftliches Eigentum wird in
gesellschaftliche Hände überführt, damit dieses der Bedürfniserfüllung Aller statt der
Gewinnmaximierung Weniger dient.
Wir können die bestehenden Machtverhältnisse verschieben, indem wir Konzerne enteignen und ihr Eigentum in unsere Hände nehmen, um gesamtgesellschaftlich darüber zu entscheiden. Wir können als Gesellschaft endlich die Gegenmacht aufbauen, die es braucht, um die nötigen grundlegenden Veränderungen selbst in die Hand zu nehmen und um den viel beschworenen System Change endlich herbeizuführen.
Wenn wir „System Change not Climate Change“ nicht nur eine leere Floskel sein lassen
wollen, müssen wir uns an die Eigentumsverhältnisse wagen.
Mit dem Blick auf die Eigentumsverhältnisse verschwindet auch der vermeintliche Widerspruch sozialer und ökologischer Forderungen, denn die vergesellschafteten Bereiche unserer Lebensfürsorge müssen nicht mehr rentabel sein, keine Dividenden und keine steigenden Gewinne mehr abwerfen.
Im Mittelpunkt der Produktion steht dann einzig und allein das Ziel, alle zu versorgen. Wir
können Wirtschaftssektoren daran orientiert neu strukturieren und der Gleichzeitigkeit von
sozialen Bedürfnissen wie dem bezahlbaren Zugang nach Strom und von ökologischen Notwendigkeiten wie einer radikalen Energiewende gerecht werden.
Die Vergesellschaftung eines Wirtschaftssektors ermächtigt alle Gruppen, die von seinen
Gütern in irgendeiner Weise abhängen, an dessen Ausgestaltung teilzuhaben. Dadurch
können wir als Gesellschaft für Konflikte die bestmögliche Lösung finden, ohne dass am
Ende die Gewinne stimmen müssen.
Wie kann zum Beispiel ein ökologischer Umbau möglich sein an dem die Beschäftigten tatsächlich teilhaben?

Wie sieht die Zukunft der Braunkohleregionen Deutschlands aus?
Es ist unsere Aufgabe zu zeigen, dass Eigentum die Trennlinie zwischen den Verlierer*innen und den Gewinner*innen des Systems ist und darin für uns auch Potential liegt. Wenn das
Eigentum an allem, was wir zum Leben brauchen, in den Händen von privaten Konzernen
liegt, dann sind sie diejenigen, die von der aktuellen Energiekrise in Milliardenhöhe profitie-
ren und diejenigen, nach deren Vorteil der Umbau von Industrien auf Kosten der Umwelt, auf Kosten der Arbeiter*innen, von statten gehen wird. Wenn unsere Grundbedürfnisse allerdings vergesellschaftet sind, dann verschieben wir diese Trennlinie, dann können wir unsere Ohnmacht gegenüber den Krisen unserer Zeit beenden und auch die Krisen selbst.
Durch Vergesellschaftung gewinnen wir alle.

Die letzten Jahre der Klimagerechtigkeitsbewegung waren geprägt von Abwehrkämpfen:
den Hambi vor der Rodung beschützen, sich gegen die Überschreitung der 1,5°-Gradgrenze
wehren, fossile Infrastruktur blockieren, den Danni und Lützerath verteidigen, genauso wie
viele weitere Wälder und Orte für deren Erhalt zu besetzen.
Wir haben dadurch viel erreicht und sind zu der starken Bewegung gewachsen, die wir jetzt sind – aber es ist auch ermüdend.
Wir müssen größer denken: wenn uns der Verkehrssektor gehören würde, müssten wir
nicht mehr jeden Wald vor der neuen Autobahn verteidigen. Wir dürfen uns mehr zutrauen:
Anstatt nur verändern zu wollen, was entschieden wird, müssen wir verändern, wer über-
haupt entscheidet, wonach überhaupt entschieden wird.
Wir brauchen auch konkrete Utopien, für die es sich zu streiten lohnt, unter denen sich die in Unterthemen zerfaserte Klimagerechtigkeitsbewegung neu versammeln kann. Utopien, die vorstellbare Alternativen bieten. Wir wollen nicht Gefahr laufen, zu einem stabilisierenden Teil der kapitalistischen Maschinerie zu werden, in dem wir durch erkämpfte Reformvorhaben die Erzählung des grünen Wachstums vorantreiben.
Mit Vergesellschaftung haben wir die Möglichkeit diese Utopie auszuformulieren, die einen
realen Bruch mit dem herrschenden System zu schaffen vermag: mit Privateigentum, Profitdruck und Gewinnmaximierung.
Vergesellschaftung ist umsetzbar und ist als Möglichkeit verankert im Grundgesetz
Artikel 15.
Wir können hierzu bereits hoffungsvoll nach Berlin blicken, wo die Initiative Deutsche
Wohnen & Co enteignen auf Grundlage dieses Artikels im September 2021 einen erfolg-
reichen Volksentscheid durchführte, bei dem über 1 Millionen Berliner*innen für die
Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne stimmten.

Mit Vergesellschaftung können wir in eine Rolle des Begehrens und des Aufbauens, statt
des Gegenhaltens kommen.
Um Schlagkraft zu entwickeln, müssen wir aufzeigen, was wir wollen und dass linke Politik
etwas anzubieten hat : tatsächliche, reale Gewinne für uns alle.Im vergesellschafteten Energiesektor wird das beispielhaft deutlich: im aktuellen Diskurs um die Energiekrise können wir zeigen, dass wir die Strompreise ohne Konzernprofite leicht um die Hälfte halbieren könnten. Wir können als Gesellschaft selbst die Veränderungen umsetzen, die schon so lange überfällig sind, denn es ist Fakt: wenn wir hätten entscheiden können, wie wir Strom gewinnen, wäre die Energiewende schon längst an einem weiteren fortgeschritteren Punkt, wäre Lützerath nicht geräumt worden. Wenn wir entscheiden,
können wir für Klimagerechtigkeit sorgen, dafür, dass fossile Energieträger im Boden
bleiben. Wir könnten statt neuen überdimensionierten LNG-Terminals Wind und Wasser-
kraft ausbauen. Wir könnten gemeinsam diskutieren, wofür wir unseren Strom wirklich
brauchen und verbrauchen wollen und welche Industrien wir runterfahren mit einer der zentralsten Ressourcen – Energie – in unserer Hand.

Wir müssten nicht mehr an die Politik appellieren, nicht mehr hoffen, den Entscheidungs-
träger:innen von heute ein Fünkchen ökologisches oder soziales Zugeständnis abringen zu
können.
Wir können uns gesellschaftliche Macht zurückholen und davon ausgehend eine Utopie aufbauen.
Dies ist ein Aufruf zusammenzukommen, weil wir wissen, dass wir als Bewegung eine
unglaubliche Stärke bündeln. Lasst uns vergesellschaften.